Türkisch-islamische Sterberituale unter Migrationsbedingungen

Kommunikative Schwierigkeiten im professionellen Umgang

In meinen Ausführungen beschäftige ich mich zunächst mit den besonderen religiösen und sozialen Hintergründen des Islams in der Türkei. Anhand von Angaben aus der Literatur werde ich Sterbe- und Begrägnisrituale darstellen. Schließlich will ich einen besonderen Schwerpunkt auf die Veränderungen des Umgangs mit Abschied und Sterben unter Migrationsbedingungen legen. Ich habe vor allem diejenigen Aspekte aufgegriffen, von denen ich mir vorstellen kann, dass sie für diejenigen, die professionell mit dem Sterben türkischer Patienten zu tun haben, von Bedeutung sind, also für diejenigen, die ans Kranken- und Sterbebett gerufen werden. Das Ziel meiner Ausführungen ist der Versuch, Hintergründe verständlich zu machen, um sich andere Verhaltensweisen erklären zu können.

1. Soziale und religiöse Hintergründe des Islams in der Türkei

Der Islam hat viele Glaubensrichtungen. Als die drei Hauptrichtungen werden die Sunniten, die Schiiten und die Alewiten genannt.

In der Türkei gibt es nach offiziellen Angaben heute fast nur noch die orthodoxen Sunniten. Nach Schätzungen gibt es jedoch 20-25% Alewiten. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts soll es viele Schiiten gegeben haben, die jedoch vertrieben oder ausgerottet worden sein sollen. (Näheres siehe Tan, S.164ff). Die Alewiten werden in ihrem religiösen Verständnis nicht akzeptiert. Und der Glaube ist vor allem unter der kurdischen Bevölkerung weit verbreitet. Die Kurden werden als Bevölkerungsminderheit, in ihrer kulturellen Identität und ihrer religiösen Bindung verfolgt. Die Autoren weisen weiterhin darauf hin, dass viele Vorstellungen des Volksislam in der Türkei existieren, die auf vorislamische Wurzeln zurückreichen, insbesondere auf persisch-christliche. Deshalb unterscheiden sich Sterberituale nach Angaben offenbar erheblich von islamischen Ritualen in anderen Ländern.

Der Staat bietet keine Hilfe und keine Sicherheit im Umgang mit individuellen Lebenskrisen. In den Diktaturen des vergangenen Jahrhunderts gab es viele Verfolgte und Ermordete und noch heute werden Andersdenkende gefoltert. Im alltäglichen Umgang gibt es keine Absicherung wie Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Deshalb übernimmt die Gemeinschaft viele Aufgaben, den Einzelnen aufzufangen und zu unterstützen. Diese sozial notwendige Unterstützung wird religiös untermauert. Im traditionellen türkischen Denken und Handeln kennt man klare Vorstellungen über die Aufgabe des Einzelnen in der Gemeinschaft bei bestimmten Anlässen.

Im Folgenden beschäftige ich mich mit sunnitisch geprägten Vorstellungen vom Sterben in der Türkei.

2. Religiös und sozial bedingte Bilder und Grundeinstellungen des Lebens

Die Bilder von Sterben, Tod und Wiederauferstehung im türkischen Glauben haben etwas sehr Archaisches. Die Vorstellung ist, dass der Tote zwar aus der Gemeinschaft der Lebenden verschwindet, dann jedoch auf dem Friedhof in einer Zwischenexistenz bis zum Jüngsten Tag weiterexistiert. Der Jüngste Tag wird in drastischen Bildern geschildert (Blach, S.20ff). Dann kommt es zu einer Wiederholung der Schöpfung im Jenseits, und Gott versammelt alle Menschen und richtet über sie.

Deshalb ist das Handeln des religiösen Menschen nicht nur davon bestimmt, die religiösen Grundpflichten zu erfüllen, sondern sich durch möglichst viele verdienstvolle Handlungen auszuzeichnen. Die Grundvorstellung ist die, dass jeder Mensch, dann wenn er plötzlich vom Tod überrascht wird, ausreichend gute Handlungen erbracht haben sollte. Deshalb lebt der religiöse Mensch immer in der Vorstellung von Schuld, die er abarbeiten muss.

Konkret werden Verwandte und Freunde gerufen, wenn der Tod eines Menschen absehbar ist. Neben dem persönlichen Abschied soll es möglich sein, gegenseitige Schuld und Schulden zu begleichen und den Sterbenden im Gebet zu begleiten. Der Sterbende soll mit einem Gebet auf den Lippen sterben, damit ihm der Teufel nicht beim Eintreten des Todes den Widerruf seines Glaubensbekenntnisses abringen kann. Mit dem Sterbenden sollen bestimmte, vorgegebene Gebete, Suren, gesprochen werden, wobei der Sterbende sich daran beteiligt, sofern er dazu noch in der Lage ist. Später gibt er durch Zeichen sein Einverständnis zu erkennen. Damit er auch gestärkt ins Jenseits geht, soll er kurz vor dem Ableben einen Schluck Wasser trinken, am Besten heiliges Wasser, das aus Mekka mitgebracht wurde. Er brauche dies, um nicht zu entkräftet zu sein, dem Teufel zu widersprechen. Nach dem Eintritt des Todes werden dem Verstorbenen der Mund zugebunden, damit er dem Teufel nicht zustimmen kann, und ihm werden die Augen verbunden, damit er den Teufel nicht sehen kann. Ein Fenster muss geöffnet werden, damit die Seele entweichen kann.

Dann wird der Tote in einen Zwischenbereich zwischen seinem Lebensraum und dem Friedhof gebracht, z.B. in den Vorhof seines Hauses, um zu symbolisieren, dass der Betreffende zwischen den Lebenden und den Toten steht. Dort wird er nach traditionellen Vorstellungen gewaschen und aufgebahrt. In der Regel wird der Leichnam von Ranghochstehenden gleichen Geschlechts gewaschen und danach in ein oder mehrere Baumwolltücher gewickelt. Er wird dann in einer bestimmten Anordnung mit dem Gesicht in Richtung Mekka gelegt.

In Gegenwart eines Toten werden Suren in vorgegebener Reihenfolge gebetet, während Angehörige, Freunde und Bekannte kommen, um Abschied zu nehmen.

Der Tote wird entweder noch am selben Tag beerdigt oder am folgenden, wenn der Tod erst am Nachmittag oder Abend eingetreten ist. Davor findet eine Totenfeier statt, bei der der Hoca die Anwesenden zunächst dreimal fragt, ob der Tote bekannt ist und ob er ein guter Mann war. Die Anwesenden bejahen. Danach bittet der Hoca um die Freigabe von Schuld. Er fragt, ob die Anwesenden ihre Rechte gegenüber dem Toten als abgegolten erklären. Dies bejahen die Anwesenden. Danach erklärt der Hoca auch stellvertretend für den Toten dessen Rechte als abgegolten.

Der Tote wird dann von Männern zum Friedhof getragen. Es gilt als eine gute Tat, einen Toten zu tragen, weshalb viele Männer sich darum bemühen, wenigstens ein kleines Stück mittragen zu dürfen. Der Leichnam einer Frau wird nur von ihren Blutsverwandten getragen.

Muslime dürfen nur auf islamischen Friedhöfen oder auf islamischen Sektionen von Friedhöfen begraben werden, u.z. in ein unantastbares Grab zur ewigen Ruhe, bis zum Jüngsten Tag bestattet. Feuerbestattung ist nicht vereinbar. Die Anordnung des Grabes muss in einem bestimmten Winkel in Richtung Mekka sein. Der Tote wird (ohne Sarg) ins Grab gelegt, mit dem Gesicht in Richtung Mekka. Er wird mit Brettern abgedeckt, damit die Erde nicht direkt auf seinen Körper fällt. Dann scharren die Beteiligten das Grab gemeinsam mit Erde zu. Auf islamischen Friedhöfen dürfen nie schmiedeeiserne Gegenstände angebracht werden. Das Grab wird entweder gar nicht gepflegt, der Natur überlassen. Es kann auch ein Stein oder ein Holzbrett angebracht werden, um auf den Toten aufmerksam zu machen. Darauf wird lediglich der Name genannt. Auf Besonderheiten des Verstorbenen kann in Versform hingewiesen werden.

In der Zwischenzeit geht man davon aus, dass Angehörige sich in einem Ausnahmezustand befinden. Man gestattet ihnen jegliche Form von Gefühlsausbrüchen. Andere übernehmen stellvertretend für sie Verantwortung, je nach sozialem Rang, persönlicher Nähe und Vertrautheit. Die Ranghochstehenden übernehmen die religiösen Aufgaben, die Verwandten und Vertrauten kümmern sich um die persönliche Betreuung der Angehörigen und die entfernteren Bekannten erledigen das Organisatorische. Sie bringen Essen mit und verteilen es an Arme. Im Trauerhaus wird nicht gegessen, nur getrunken. Den Trauernden wird Tee und Kaffee serviert. Es wird gemeinsam geweint, über den Toten geredet und gelacht, da Lachen als etwas Wichtiges für das Leben und das Weiterleben gilt. Viele Menschen kommen ins Trauerhaus. „Es wäre ein Anzeichen ’sozialer Armut‘ bzw. ‚realen‘ sozialen Todes, wenn keine Trauergäste ins Haus kämen. Denn reich ist nicht der, der viel besitzt, sondern der, der viele Freunde hat. Und tot ist nicht der, der verstorben ist, sondern der, der keine ‚Weinenden‘ hinterlassen hat: er muss so unbedeutend für andere gewesen sein, dass ihm keiner eine Träne nachweint.“ (Tan, S.214)

Zeichen tiefer Trauer sind es, Trauerkleidung in gedeckten Farben zu tragen, sich nicht zu waschen, zu baden und sich nicht zu rasieren. Es dürfen keine Feste gefeiert und keine Musik gehört werden.

Die Trauervorschriften des Islam enden mit der Beerdigung. In der Türkei bleibt man meist bis mindestens zum dritten Tag rund um die Uhr bei den Angehörigen. Bis zum 40. Tag, der als heiliger Tag gilt, wird im Trauerhaus nicht gekocht. Deshalb bringt man den Angehörigen Essen. Am 40. Tag trifft man sich wieder gemeinsam im Trauerhaus, iss dort zusammen, u.z. auch Süßes, um dem Bitteren des Lebens entgegen zu wirken. Man wartet noch auf das nächste religiöse Fest. Anschließend dürfen die Trauernden wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Nach einem Jahr ist die offizielle Trauer beendet.

3. Veränderungen der Trauerrituale unter Migrationsbedingungen

Die in Deutschland lebenden türkischen Muslime finden andere Bedingungen vor, als in der Türkei, im Leben und im Sterben. Ich will verschiedene Besonderheiten und Schwierigkeiten nennen. Zunächst gehen die Autoren alle davon aus, dass türkische Migraten mit der Vorstellung hierher kommen, nur eine Zeitlang hier zu bleiben, um dann wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Diese Rückkehrillusion wird als wichtiger Hintergrund dafür genannt, dass weit über 90 % aller Migraten in der „Heimat“ beerdigt werden wolle. Fast alle Migranten werden Mitglieder von Vereinen, für die sie regelmäßig Beiträge bezahlen, um die Überführung sichern zu können. Unternehmen wurden gegründet, um die Formalitäten und die Überführung zu organisieren. Wenn Migranten sich dazu entscheiden, sich hier beerdigen zu lassen, geben sie die Vorstellung, bzw. die Illusion auf, dass ihre Heimat die Türkei ist.

Andererseits bringen sowohl die Überführung wie das Begräbnis hier eine Reihe von notwendigen Modifikationen der Sterbe- und Begräbnisrituale mit sich. Bei Überführung ist ein Begräbnis noch am selben Tag unmöglich. In der Türkei befindet sich der Migrant nicht mehr in vertrauter Umgebung. Der Leichnam, vor allem aber die mitgereisten Angehörigen erleben zwar die mehr oder weniger vertrauten Begräbnisrituale; die sie begleitenden Menschen sind ihnen jedoch fern und fremd. In Deutschland werden vor allem Säuglinge beerdigt oder die wenigen Migranten, die sich dazu entscheiden. Diese stehen den deutschen Verordnungen gegenüber. Danach müssen Verstorbene fast überall in einem Sarg beerdigt werden. Die Beerdigung ist nicht so rasch möglich. Die meisten Menschen sterben im Krankenhaus, werden nach hiesigen Vorstellungen gewaschen, ins Leichenhaus gebracht. Ein persönlicher Abschied vom Verstorbenen ist nur für Momente möglich, etc. Nicht zuletzt ist die Grabpflege mehr oder weniger vorgeschrieben. Gräber werden immer für eine befristete Zeit belegt.

Die türkischen religiösen Vermittler haben sich in nahezu allen Unterschieden an die deutschen Vorgaben angepasst, um der Tatsache gerecht zu werden, dass jüngere, oft die hier geborenen Türken, Deutschland als ihre Wahlheimat oder als ihre zweite Heimat anerkennen. So wurden Sargbestattungen erlaubt, die Wiederbelegung von Gräbern, unter der Bedingung, dass die Gebeine nicht aus der Erde entfernt werden, etc.

Vor allem erschweren kommunikative Schwierigkeiten untereinander und im Kontakt mit deutschen Behörden, Ärzten, etc. den Austausch und das Überbrücken der Unterschiede. Ich nenne nur ein paar Beispiele. Die Mitglieder der Trauergemeinde kennen sich kaum. Die einzelnen müssen sich ständig orientieren („gehört er zu uns?“), akzeptiert er dieselben oder andere Rituale? Dies betrifft die religiöse Orientierung, aber auch lokale Differenzen. Die Jungen haben oft eine wichtige sprachliche Funktion, sind hier viel bedeutsamer als in der Türkei, während die Alten hier sprachlich nicht viel ausrichten können. Sie kennen die Rituale besser, wissen zugleich nicht, ob die Jungen sie anerkennen und fühlen sich überflüssig. Andererseits stoßen die Rituale auch Deutschen gegenüber mitunter auf Missverständnisse. Die Jungen halten sich manchmal aus Unkenntnis oder aus Nichtakzeptanz nicht an die Form, oft aber auch, weil sie spüren, dass ein in der Türkei angemessenes Trauerverhalten hier nicht angemessen ist. Wenn beispielsweise ein Mensch sich nicht wäscht und nicht rasiert wirkt sein Verhalten als ein Ausdruck von Ungepflegtheit. Ein anderes Beispiel wird genannt. Bei einem Trauerfall kommen fremde Menschen in eine Familie und bringen Geschirr (traditionelle Teegläser) und Essen mit. Die deutsche Ehefrau des türkischen Bruders des Verstorbenen fühlt sich missachtet. Anschließend werden Bekannte eingeteilt, die in der Familie schlafen. Was in der Türkei ein Hilfe sein kann, wird hier als eine zusätzliche Belastung erlebt. Rückzug ermöglicht hier überhaupt erst Trauer, die als etwas Persönlicheres erlebt wird und in Anwesenheit Fremder nicht erlebt und gelebt werden kann.

Im Verhalten gegenüber Behörden und Krankenhäusern wird das traditionelle Trauerverhalten als etwas Ungepflegtes missverstanden. Ein Beispiel wird genannt, in dem ein relativ entfernter Bekannter mit einem Arzt spricht, der den Totenschein ausstellen soll. Der Arzt wird von den direkten Angehörigen abgehalten, weil es sich nach traditionellen Vorstellungen nicht gehört, sie in diesem Zustand zu belästigen. Der Bekannte ist mit den abgefragten Angaben nicht vertraut. Um den Angehörigen und dem Arzt gerecht zu werden macht er irgendwelche Angaben.

Ein Paradoxon wird genant. Obwohl der gemeinschaftliche Abschied von einem Sterbenden als etwas sehr Wichtiges betrachtet wird, drängen türkische Familien offenbar rasch auf eine Krankenhauseinweisung. Dies wird mit der ständig präsenten Vorstellung von Schuld begründet. Der Einzelne kann nie wissen, ob er alles für seinen Angehörigen tut. Um nicht Schuld auf sich zu nehmen, gibt er die Verantwortung ab. Mir scheint jedoch auch ein weiterer Gedanke bedeutsam. Die geschilderten Rituale haben wenig mit persönlicher Gestaltung und Verantwortlichkeit zu tun. Erfahrungsgemäß geben Menschen, die es nicht gewohnt sind, individuelle Entscheidungen zu treffen, unter irritierenden oder unklaren Situationen die Verantwortung rasch ab. Im Krankenhaus sind dann Menschen den dort existierenden Abläufen unterworfen, und sich, ihrer Familie und ihre Ritualen viel mehr entfremdet als zu Hause.

Als Letztes möchte ich auf eine Differenz im Erleben und in der Handhabung aufmerksam machen. Wenn ein türkischer Angehöriger unerwartet verstorben ist, werden die direkten Angehörigen zuletzt informiert. Man geht davon aus, dass die direkten Angehörigen verschont werden müssen. Da sie sowieso nichts mehr verändern können, sollen erst hilfreiche Verwandte und Freunde verständigt werden, um emotional präsenten zu sein, wenn der Betroffene so spät sie möglich von seinem erlittenen Schicksalsschlag erfährt.

Ich habe nur einige ausgewählte Beispiele genannt, Schwierigkeiten durch unterschiedliche kulturelle, soziale und erfahrungsbedingte Erlebnisweisen aufzuzeigen, die zu Missverständnissen im professionellen Umgang mit türkischen Patienten und deren Angehörigen führen können. Die Beispiele könnten fortgesetzt werden.


Literatur

Blach, Th.: Nach Mekka gewandt.
Zum Umgang türkischer Muslime mit ihren Verstorben in der Türkei und in Deutschland.
Museum für Sepulkralkultur. Kassel, 1996

Nach Mekka gewandt.
Beilage zum Aussstellungskatalog, 1997

Tan, D.: Das fremde Sterben.
Sterben, Tod und Trauer unter Migrationsbedingungen.
Hannover, 1998